Der Tag beginnt früh, aber mit einem dicken Brummschädel. Die Fahrt zurück in den Ort ist einiges angenehmer als die Autofahrt am Vorabend. Da bin ich zum Glück unmittelbar nach Ankunft auf dem Sofa eingeschlafen, bevor schlimmeres Geschehen konnte. Mit einem Dank verabschiede ich mich von Terry und hoffe darauf, den Kater mittels eines starken Kaffees zu lindern. Leider ist kein kleines, nettes Cafe in Sichtweite. Verzweifelt wie ich bin, kaufe ich mir zum ersten Mal auf dieser Reise etwas bei Starbucks. Natürlich hoffe ich, dass das überteuerte, heisse, Koffeingetränk meinen Kreislauf in Gang kriegt und ich so die dumpfe Benommenheit aus meinen Kopf kriege. Zaghaft schwinge ich mein rechtes Bein über den Sattel und trete halbherzig in die Pedalen. So richtigen Kaffee scheint der mittlerweile grösste Milchhändler der Welt gar nicht mehr anzubieten. Denn wirklich wach bin ich von dem Gebräu nicht geworden, doch los gehts. Nach einiger Zeit lenkt mich die schöne Aussicht über das Columbia Tal dermassen ab, dass mein Kater in Vergessenheit gerät. Am Portland Women Forum lege ich eine erste Pause ein, da man von da das wohl schönste Panorama hat. Die zähen ersten Kilometer zahlen sich nun aus. Die Ausblicke wie auch die Strasse wird nun einiges besser. Die Abfahrt hinunter ins Tal muss ich mehrmals unterbrechen, um die Umgebung zu geniessen. Es kommen nun Wasserfälle an Wasserfälle. Bei dem einen oder anderen mache ich einen Halt. Beim wohl eindrücklichsten sprechen mich einige Radtouristen an, welche eine organisierte Tour machen. Nach einer Viertelstunde quasseln gibt es noch ein Erinnerungsfoto, bevor ich mich aufmache Cascade Locks zu erreichen. Auf den letzten Kilometern setzt ein leichter Regen ein. Irgendwie passend für den heutigen Tag. Immer wieder halte ich Ausschau nach einem guten Platz fürs Zelt, doch entweder ist es zu nahe an der Strasse oder der Boden lässt es nicht zu die Heringe einzuschlagen. Es ist schon dunkel, als ich Cascade Locks erreiche. Der Guide der Radtruppe hat mir einen Fünfer zu gesteckt, damit ich mir in der Thunder Island Brewery ein lokales Bier gönnen kann. Dies lasse ich mir natürlich nicht entgehen, in der Hoffnung dass der Regen auch mal aufhört. Nicht nur dies, in der Brauerei lerne ich Jenny und ihre Mutter kennen. Diese sind mit ihrem Van auf dem Camping Platz nebenan stationiert und laden mich ein das Zelt auf ihrem Platz aufzustellen. Als ob die Erinnerung an heute morgen noch etwas zu frisch war, lehne ich nach dem zweiten Bier ein Drittes ab.

Am Morgen erwache ich mit der Aussicht auf die Bridge of the Gods. Der Regen hat aufgehört, nun hangen die Nebelschwaden im Tal und darüber stehen die hellgrauen Wolken. Über diese Brücke gehen auch die Wanderer des PCTs. Ich denke an meine Partygenossen von Skykomish und frage mich, ob diese nun alle am Ziel angekommen sind. Für die Brücke wird eine kleine Maut fällig, auch für Radfahrer. Am Nordufer des Columbia fahre ich einige Kilometer bis ich ein kleines Dorf erreiche. Mittlerweile haben die Wolken der Sonne Platz gemacht. Vor dem Dorfeingang segelt ein Weisskopf Seeadler nur zwei Meter über meinen Kopf hinweg. Es juckt mich im Handgelenk und ich will nach der Kamera greifen, ehe ich es mir anders überlege und den Moment voll und ganz geniesse. Was für ein eindrückliches Erlebnis, wie dieser riesige Greifvogel mit seinen weiten Schwingen elegant durch die Lüfte kreist. Einige Sekunden schaue ich dem Vogel nach, bevor die Strasse wieder meine volle Aufmerksamkeit geniesst. Ich suche nach einem Lokal mit Internetzugang, damit die Route rund um den berühmten Vulkan geplant werden kann. Ich fahre kreuz und quer durch den Ort bis ich eine Brockenstube entdecke, die zugleich auch ein Kaffee ist. Noch bei Sonnenschein trete ich ein, doch das Wetter scheint mir heute sehr wechselhaft. Es kommt ein heftiger Wind auf. Die nächsten zwei Stunden gerate ich mitten in Diskussionen über eine von Nestlé geplante Abfüllanlage für Mineralwasser und lausche dem Geplänkel der anderen über die Vorwahlen zur US-Präsidentschaftswahlen von 2017. Draussen ist das Wetter in der Zwischenzeit ähnlich turbulent, wie die Diskussionen um mich herum. Das Kartenmaterial für die Region um Mount St. Helens ist eher bescheiden. Zusätzlich erschwert sich die Planung, da einige Strassen wegen dem nahenden Winter gesperrt sind. So dauert es einige Zeit bis ich eine geeignete Route ausgelegt habe. Schnell sende ich die geplante Route an meine Brüder mit dem Auftrag, sollte sie nach 96 Stunden nichts von mir hören, sich an den Rettungsdienst zu wenden und denen meine Route zu senden. Endlich kann das Abenteuer beginnen, doch das Wetter macht draussen üble Kapriolen. So geniesse ich einen weiteren doppelten Espresso und ein offeriertes Stück Kuchen, während es draussen weiter stürmt. Alles abwarten hilft nichts. Ich schmeiss mich in die Regenklamotten und stürz mich ins nasse Vergnügen. Die erste Stunde im Regen macht noch Spass, doch als es sich abzeichnet, dass es eine regenreiche Nacht gibt sinkt meine Laune ein wenig. Ein kleiner Waldweg ist mit einem Tor verschlossen. Mit dem Fahrrad ist es ein leichtes das Tor zu umgehen. Eine gute Distanz von der Hauptstrasse weg, stelle ich mein Zelt mitten auf dem überwachsenen Feldweg auf. Die stürmische Nacht lässt mich nicht ganz so ruhig schlafen wie gewohnt. Kurz nach Mitternacht erwache ich zu einem lauten Knacken, ein Stück vom Zelt weg scheint ein schwerer Ast herunter gekommen zu sein. Beim Aufrichten folgt ein weiteres Geräusch mit deutlich schwereren Folgen. Der dumpfe Ton kam von meiner Matte. Eine Lamelle hat sich gelöst und so muss ich fortan in Schräglage schlafen. Der Regen scheint noch stärker geworden zu sein. Deshalb lasse ich es dann doch und schaue nicht raus. Es dauert eine Weile bis ich mich nicht mehr über die defekte Matte aufrege und wieder Schlaf finde.

Beim Erwachen ist es sehr ruhig. Ein gutes Zeichen, offensichtlich hat Petrus seine Pforten geschlossen und der Regen hat aufgehört. Meine gute Morgenlaune hält nur wenige Sekunden, denn alles ist nass. Der Wind hat nachts dermassen gewütet, dass einige Heringe aus dem Boden gerissen wurden. Wenige Meter vom Zelt weg, hat es eine kleine Lichtung in der ich meine sieben Sachen zum Trocknen ausbreite. Eigentlich wollte ich früh los, doch es bringt nichts die Sachen klamm weg zu packen. Es vergeht über eine Stunde, ehe ich auf den bepackten Drahtesel steige. Der Weg führt mich durch eine hügelige Herbstlandschaft. Viele Bäume tragen noch saftige grüne Blätter. Mit zunehmender Fahrtdauer wird das Laub jedoch immer gelblicher. Die ersten Stunden führen mich die Strassen stet hoch. Es geht mir einmal mehr zu wenig schnell. Ich fühle mich etwas ausgelaugt, was mich erstaunt ob der vielen entspannten Tage in der letzten Woche. Wahrscheinlich habe ich in den Gelenken etwas Rost angesetzt. Der Wald links und rechts der Strasse raubt leider auch jede Aussicht. Vermutlich liegt es daran, dass ich das Gefühl hab nicht voran zu kommen. Nach mehreren engen Kurven beginnt eine rasante Talfahrt. Jeweils nur kurz öffnet sich mir die Sicht Richtung Osten. Ausser eines weiten, bewaldeten Tals ist nichts zu sehen. Meine ganze Zuladung lässt mich immer schneller werden. Ein Schild, welches einen Aussichtspunkt ankündet kommt zu spät. Obwohl ich sofort in die Eisen steige, bin ich zu schnell für den Abzweiger. Ich halte dennoch an und radle zurück, dies lohnt sich. Vom riesigen Wendeplatz aus, sieht man den majestätischen Vulkan in seiner Südansicht. Beim Staunen wird mir bewusst, wie weit weg der Berg noch ist. Also verliere ich nicht weiter an Zeit und trete, was meine Beine hergeben. Die Fahrt macht mächtig Spass. Enge Kurven schlängeln sich durch die wunderbare Waldlandschaft. Ein leichtes Gefälle lässt mich richtig fliegen. Einzig das stete Wechselspiel zwischen Licht und Schatten ist etwas anstrengend. Beim einzigen Laden weit und breit erfahre ich, dass die meisten Rangerstationen geschlossen sind. Pässe für das National Monument gibt es auch keine mehr zu kaufen. Ich soll einfach etwas vorsichtig sein, bei der Wahl meines Schlafplatzes. Mit grossem Effort schaffe ich es ganz in die Nähe der Ape Caves. Einen Kilometer vor dem Lavatunnel ist der Trail of the two forests. Unter dem Licht des letzten Sonnenscheins biege ich auf den Parkplatz ein. Es ist irgendwie passend, den Rundgang in der Dämmerung zu absolvieren. Auf mehreren Informationstafeln erfahre ich, wie diese teils obskure Landschaft entstand. Wo Bäume von flüssiger Lava in Brand gesetzt wurden, befinden sich jetzt Löcher im Boden. Der Grund dafür, die Lava floss um den Baum und kühlte um den verkohlten Strunk ab. Der Strunk ist im Verlauf der Zeit zerfallen. Ähnliches ereignete sich mit den umgefallenen Stämmen. Ein Stamm hinterliess einen Tunnel gross genug, dass man hindurch kriechen kann. Der Erlebnispfad stimmt mich nachdenklich. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sich damals ereignete und was ein Ausbruch mit der heutigen Besiedlung bewirken würde. Etwa hundert Meter von den Parkplätzen entfernt stelle ich mein Zelt auf. Beim Aufblasen meiner Matte, biegt ein Fahrzeug auf den Parkplatz ein. Schnell mache ich meine Lampe aus und warte bis die zwei Gestalten ihr Unwesen getrieben haben. Ich bin mir nicht sicher, ob es Ranger sind, welche die Urne für die Selbst-Registration leeren oder die zwei sich sonst irgendwie daran zu schaffen machen. Ich bin letzen Endes einfach froh unentdeckt zu bleiben.

Früh geht mein Wecker, um mein Zelt wegpacken zu können, bevor ein Ranger oder Besucher auftaucht. Beim Frühstück beeile ich mich genauso, wie beim Zusammenpacken. Ich freue mich schon sehr auf die Ape Caves und bin auch etwas aufgeregt. Wenige Minuten später stehe ich auf dem leeren Parkplatz vor dem Pfad zu den Höhlen. Bevor ich in die Höhle hinunter steige, prüfe ich meine Stirnlampe und die Ersatztaschenlampe. Vor mir liegen 2.4 Kilometer Ruhe und Dunkelheit. Die ersten Minuten sind sehr entspannt, da noch ein wenig Licht vom Eingang einfällt. Beim Klettern über die ersten Felsbrocken und der ersten Unsicherheit, wo es denn lang geht, wird mir etwas mulmig. Bald finde ich mich wieder zurecht und zwänge mich durch eine kleine Lücke im Gestein. Der durchschnittliche US Amerikaner kann sich dieses Abenteuer somit abschminken. Wobei ich sagen muss, auf meiner Reise eine geringe Anzahl an Personen vom Stereotypen (fettleibiger, waffenfanatischer, murmelnder Primat) getroffen zu haben. Hmm, zurück in die Höhle. In der ersten grossen Kammer spiele ich eine Zeremonie nach, welche die ersten Tourguides hier zelebrierten. Ich setze mich auf einen Stein und schalte meine Lampe aus. Für etwas mehr als eine Minute sitze ich in der Dunkelheit und lausche jedem noch so leise Geräusch. Ausser wenigen ganz leisen Tropfen die auf den Boden fallen, nichts. Dieses Ritual sollte früher den Besuchern mehr Respekt vor diesen Tunneln einflössen, damit die Besucher nichts zerkritzeln oder sonst wie verunstalten. Die nächste Stunde ist geprägt von Klettern, Stolpern und Kraxeln. Einmal komme ich an einer Stelle vorbei, wo die Decke eingestürzt ist. Durch die eintretende Feuchtigkeit wachsen dort Farn und Moose. Es bietet sich mir ein herrliches Bild. Wenige Meter weiter herrscht wieder völlige Dunkelheit. Auf den letzten Metern begegne ich einer Gruppe junger Missionare. Wir plaudern eine ganze Zeit lang über meine Reise und meine Beweggründe dafür. Natürlich fordere ich mein Gegenrecht ein, und frage sie nach ihren Beweggründen fürs Missionieren. Die Antworten reichen von den positiven Erfahrungen ihrer Eltern über Eingebungen in Träumen bis zu Interesse an fremden Kulturen. Eine äusserst interessante Begegnung an einem sehr unüblichen Ort. Der Spaziergang zurück durch eine Landschaft geformt von Lavaströmen ist kurzweilig.

Erst als ich zurück beim Fahrrad bin mache ich mir Gedanken über die Weiterreise zum Krater hoch. Es entwickelt sich eine Rangelei zwischen meinem Bauchgefühl und meinem Willen um den Krater zu fahren. Der Zwist dauert einige Minuten, so hin- und hergerissen bin ich. Letzten Endes siegt die Vernunft und ich schlage die Strasse an die Küste Oregons ein. Ich komme dabei durch die Ortschaften Cougar, Yale und Etna. In diesen passiere ich Informationsschilder zu Massnahmen im Falle eines erneuten Ausbruchs des Mount St. Helens. Nun kann ich es kaum erwarten wieder raus ans Meer zu kommen. Darum fahre ich solange es die Sonne zulässt. In Woodland muss ich dann einsehen, dass es zu dunkel wird. Hinter einer Kirche finde ich einen ruhigen Flecken Erde. Der Pfarrer ist nicht da, so mache ich es mir ohne seine Einwilligung gemütlich.

Der nächste Tag beginnt sehr früh, da ich mich möglichst ungesehen wieder aufmachen will. Ein relativ ruhiger und ereignisloser Tag bringt mich via Longview nach Astoria. Knappe 160 Kilometer und mehr Höhenmeter als erwartet stecken abends in meinen Beinen. Am Hafensteg in Astoria begrüsst mich eine Schar von Seelöwen mit einem Konzert. Dazu erlebe ich einen Wahnsinns Sonnenuntergang über der Brücke des Highway 101 zwischen Washington und Oregon. Die Sonne ist schon verschwunden und ich habe keinen Plan, wo ich die Nacht verbringen will. Ab gehts zum goldenen “M”. Da stehe ich kurz auf dem Parkplatz um mich an deren Internetzugang zu bedienen. Der State Park Fort Stevens ist noch wenige Kilometer weiter draussen in Richtung See. Dort will ich hin. In der Zwischenzeit bemerke ich eine Gruppe Jugendlicher, die sich auf dem Parkplatz nebenan etwas auffällig benimmt. Offensichtlich hat einer von ihnen einen Taser mit dabei und spielt damit. Erst als ich dann an ihnen vorbei und ein, zwei Kilometer weiter auf dem Weg zum State Park bin, fühle ich mich etwas wohler. Eine lange schmale Brücke liegt vor mir. Der schmale Seitenstreifen bietet gerade genug Platz für meine beladene Soletta. Mit einem mulmigen Gefühl und vollster Aufmerksamkeit mache ich mich auf. Fast geschafft denke ich, als ich 200 Hundert Meter vor mir das Ende der Brücke sehe. In dem Moment fährt ein Auto knapp an mir vorbei und ich sehe im Augenwinkel bloss das Blitzen des Tasers. Mein Herz rast. Der Schock sitzt tief, doch zum Glück haben sie mich verfehlt. Unter dem Fahren greife ich runter an meine Vordertasche und ziehe das Bärenspray aus der Halterung. Geladen als ob mich der Taser getroffen hat, hoffe ich, dass die Jungs am Ende der Brücke auf mich warten. Ich bin voller Rage und würde sie zu gerne vor mir auf Boden sich winden sehen. Einige Meter nach der Brücke kriege ich mich wieder ein. Trotzdem halte ich das Bärenspray in meiner rechten Hand. Die letzten drei Kilometer werfe ich regelmässig einen Blick zurück, um Ausschau nach den auffälligen Runden Scheinwerfern zu halten. Erst beim passieren des Eingangs in den State Park packe ich das Spray wieder weg. In der Dunkelheit habe ich etwas Mühe den Zeltplatz zu finden. Dort lerne ich dann drei andere Radler kennen. Die Jungs sind eine spassige Gesellschaft. Ich bin aber nach der letzten aufregenden Stunde dermassen platt, dass ich mich direkt zu Bett lege. Schauen wir mal, wie lange ich hier verweilen werde.

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