Eine ereignislose Fahrt aus Seattle bringt mich nach Machias. Spät abends schlage ich mein Zelt entlang des Fahrradweges auf. Die Nächte werden immer kälter, so fällt es mir früh morgens schwer aus dem Schlafsack zu kriechen. Doch beim zweiten Frühaufsteher, den ich an meinem Zelt vorbei spazieren höre, überwinde ich mich dann doch den Reissverschluss zu öffnen. Der Centenniel Trail führt mich weitab vom lärmigen Verkehr Richtung Anacortes. Von da will ich mit der Fähre nach Orcas Island, da Paula und auch Becky davon geschwärmt haben. Ich werde nur einmal etwas langsamer als mich eine komische Gestalt anquatscht wegen Kleingeld für ein Schlauch Reparaturset. Da ich hinter einem Gebüsch etwas versteckt einen zweiten komischen Gesellen ausmache, traue ich der Situation nicht und trete kräftig in die Pedalen. Es plagt mich etwas, nicht zu helfen. Doch wer wartet nur wenige hundert Meter ausserhalb eines Dorfes am Strassenrand und quatscht die Leute an. Die letzten zwanzig Kilometer auf dem Weg nach Anacortes fahr ich wieder auf arm befahrenen Strassen. Einige Male werde ich von den Böen mitten auf die Fahrbahn gestossen. Es ist nicht ganz einfach den Wind stets richtig einzuschätzen. Vor der Überfahrt mit der Fähre gönne ich mir noch eine Stärkung von der Theke im Safeway. In der Süssigkeitenecke gibt es heute Donuts mit blauer und grüner Lasur. Dies kann nur eines bedeuten, es ist Sonntag und somit Spieltag für die NFL.

Die Fahrt mit der Fähre dauert etwas mehr als eine Stunde. Der Bootssteg auf Orcas ist in der südwestlichen Ecke. Die Insel hat die Form eines kleinen “n”. Oben mittig ist der einzige richtige Ort mit dem Namen Eastsound. Im Westen liegen einige Ressorts, Parks und Reservate. Prompt als ich Fuss auf die Insel setze beginnt es zu regnen. Möglichst schnell krame ich meine Regenklamotten hervor und verpacke mich so gut wie es geht. In Windeseile fahre ich nach Eastsound, um nicht allzu viel vom Spiel der Seattle Seahawks zu verpassen. Auf Becky’s Rat gehe ich in die Taverne, welche schon gut gefüllt ist. Die erste Hälfte des Spiels muss ich mir im stehen anschauen. Ich wärme mich solange mit einem Bier von innen. Als ich mir endlich einen Sitzplatz ergattere, bestelle ich mir einen leckeren Burger mit Fritten. Der Burger schmeckt wegen der Fahrt durchs nass kalte Wetter umso besser. Als sich ein Pärchen nach einem Tisch umschaut winke ich sie rüber, da die Taverne bis auf meinen Tisch voll besetzt ist. Freudig und dankend nehmen sie Platz. Im Gespräch frage ich sie nach einem Platz für mein Zelt. Sie meinen, dass es im südöstlichen Ecken der Insel Plätze gebe. Das Spiel läuft nun etwas nebensächlich im Hintergrund und es läuft leider nicht allzu gut für die Seahawks. Mitten aus dem Nichts meint Trish zu ihrem Partner, ob es nicht direkt hier etwa 300 Meter die eine Strasse runter ok sei ein Zelt aufzustellen. Dieser bejaht und zeigt mir auf seinem intelligenten Telefon, die entsprechende Stelle. Als die Beiden zahlen schieben sie mir noch drei goldene Münzen zu. Auf der einen Seite prangt das Logo der Taverne auf der Kehrseite ist eingraviert “good for one beer”. Das Spiel geht ins letzte Viertel, der Regen wird immer weniger und deshalb bestelle ich mir ein weiteres Bier. Als das Spiel und auch mein Bier zu ende geht, begleiche ich meine Rechnung und mache mich gespannt auf die Suche nach meinem Zeltplatz. In der Tat ist es sehr einfach einen Platz zu finden. Nur wenige hundert Meter vom Zentrum stelle ich komplett ungestört mein Zelt auf. Zum Rauschen des Meeres falle ich in einen gesunden, tiefen Schlaf.

Am Morgen beim Verlassen des Zelts grüsst mich eine herrliche Aussicht über die Bucht der Insel. Da meine Schuhe und auch einzelne Kleidungsstücke nass von der gestrigen Regenfahrt sind, habe ich Zeit mich zu sonnen, während meine Kleider und Schuhe trocknen. Ich getraue mich nicht mein Lager tagsüber stehen zu lassen, so packe ich meine Sachen zusammen und fahre zurück ins Dorf. Es gibt ja auch einen Grund wieso diese Insel ihren Namen trägt. Online werde ich schnell fündig. Drei Anbieter für Whale-watching Bootsfahrten buhlen um die Touristen. Der Preis mit hundert Dollar fällt zwar ins Gewicht, da ich bisher sehr sparsam war, gönne ich mir diesen Luxus trotzdem. Ein Angebot mit Garantie Killer-Wale zu sehen überzeugt mich. In deren Büro finde ich heraus, dass heute keines ihrer Schiffe den Hafen verlässt. So buche ich eine Tour für morgen. Was mache ich nun mit dem angebrochenen Tag?

Einen Espresso später fahre ich mit meinem vollbepackten Rad los und erkunde die östlichen Teile der Insel. Bei einer kurzen Pause für meinen Mittagssnack fällt eine Gruppe Radfahrerinnen ein. Yolanda spricht mich auf meine Ausrüstung an. Schnell kommen wir ins Gespräch. Sie und ihre Kolleginnen sind allesamt Ärzte aus der Region um San Francisco. Alljährlich machen die Freundinnen eine organisierte Radtour und dieses Jahr sind es die San Juan Inseln, welche sie bereisen. Während ich meinen Snack verschlinge werden die Räder der Damen auf dem Begleitfahrzeug verstaut. Ich wünsche ihnen einen schönen Trip weiterhin und nehme die Steigung zum Mount Constitution in Angriff. Der Weg zum höchsten Punkt der Insel führt durch einen schönen Wald. Die Sonne strahlt und es sind kaum Wolken am Himmel zu sehen. Das verspricht eine herrliche Weitsicht. Etwas unterhalb des Gipfels entdecke ich eine Eule, wie sie regungslos auf einem Ast sitzt. Beim Versuch mich ihr für einen guten Schnappschuss mit meiner Weitwinkel-Linse zu nähern breitet sie majestätisch ihre Flügel aus und segelt davon. Die letzten Höhenmeter sind keine Anstrengung mehr. Plötzlich passiert mich der Begleitbus der Radgruppe. Durch die geschlossenen Fenster höre ich die Damen mich anfeuern. Am Fuss des Aussichtsturm treffe ich dann die Damen erneut. Sie laden mich ein, heute Abend mit Ihnen etwas trinken zu gehen. Ich meine bloss, es zu versuchen pünktlich zu sein. Während Yolanda und ihre Freundinnen ins Hotel chauffiert werden, erklimme ich noch den Aussichtsturm und geniesse eine atemberaubende Aussicht. Am Horizont türmt sich der mächtige Mount Baker. Rund um Orcas Island sind viele kleinere Inseln. Es ist schwer die Übersicht zu behalten, welche zu den Vereinigten Staaten und welche zu Kanada gehören. Die Abfahrt runter macht Spass. An einem See finde ich eine kalte Aussendusche, welche ich nach drei Tage ohne Dusche geniesse. Es ist ein ganz anderes Gefühl nach einer Dusche, als nach ordentlichem Waschen. Der ganze Körper scheint nach dem kalten Nass zu glühen. Schnell schmeiss ich mich in frische Klamotten und rolle gemütlich zurück nach Eastsound. Ein kleiner Snack aus meinem Proviant reicht heute als Abendessen. Wenig später treffe ich die geselligen Radfahrerinnen im Restaurant. Es ist ein heiterer Abend bei einem Glas Wein und zum Schluss gibt es noch eine Runde Nachspeise, bei der alle von allem etwas probieren. Die Gruppe schiebt alle halb leeren Teller zu mir. Natürlich kann ich die süssen Köstlichkeiten nicht in die Küche zurück gehen lassen. Der Abend endet zu einer sittlichen Zeit. Für die morgige Bootsfahrt muss ich jedoch versprechen einen Bericht abzuliefern. Ich bin ganz froh darüber, so kann ich nun entspannt mein Zelt wieder aufstellen gehen.

In aller Ruhe kann ich mein Lager am Morgen wieder abbrechen und ans nördliche Ufer der Insel fahren. Dort haben sich schon eine Menge Leute eingefunden und warten auf die Crews für die Boote. Die meisten können es nicht erwarten auf ein Boot zu kommen. Ich entscheide mich geduldig abzuwarten und gehe aufs letzte und kleinste Boot. Die Triton wird von Captain Sky geführt. Er war früher ein Profi-Surfer und ist ein erfahrener Seefahrer. Die kleine Schüssel ist nicht voll und so ist die Atmosphäre unter den neun Passagieren sehr entspannt. Nach der Fahrt aus dem Hafen begrüssen uns schon die erste Tümmler. Kaum eine Viertelstunde später sind wir umgeben von Seehunden. Unweit von Spieden Island treiben wir auf der See und schauen den Robben beim spielen zu. Sky ist begeistert von der Vielfalt an Tieren, die wir erwarten dürfen. In der Tat dauert es nicht lange bis ein Weisskopf Seeadler über uns kreist. Während der Überfahrt nach Spieden Island plaudert Sky aus seinem Nähkästchen. Die Insel gehörte früher John Wayne. Der war ein passionierter Jäger und hat ein Sammelsurium an Wildtieren auf die Insel gebracht, um seiner Passion zu frönen. Wir entdecken Herden von verschiedensten Reh- und Hirscharten aus aller Welt. Die Insel gehört mittlerweile dem Gründer der Marke Oakley. Das Funkgerät beginnt zu rauschen. Ich kann nicht ausmachen was gesprochen wird. Sky quittiert und startet die Motoren. Offensichtlich wurde ihm gemeldet, wo es was interessantes zu sehen gibt. Wir kreuzen nun in kanadischen Gewässern, hier gilt ein kleinerer Mindestabstand für Whale-watching. Es ist nicht mehr so ruhig an Bord wie zu Beginn. Alle sind gespannt was uns erwartet. Auch um uns herum drängen sich nun die Boote. Geschickt manövriert Sky die Triton aus dem Gros der Boote. Am Ufer der Insel vor uns steigen kleine Fontänen in die Höhe. Es ist schwer auszumachen wie viele Wale es sind. Es ist eine grosse Gruppe die einige hundert Meter entfernt an uns vorbei zieht. Während wir uns neu positionieren um einen Augenschein aus kleiner Distanz zu nehmen, erklärt unser kundiger Kapitän einige Merkmale der Orcas. Eine spitzige Rückenflosse deutet auf ein Männchen hin, die weiblichen Riesen haben eine eher gebogene Flosse. Die weisse Zeichnungen direkt hinter der Rückenflossen sind mit dem menschlichen Fingerabdruck zu vergleichen. Anhand dieser kann jeder Wal eindeutig identifiziert werden. Sky leistet grossartige Arbeit und bringt uns immer näher an die schwimmenden Kolosse. Die Schule der Killerwale, welche sich uns zeigt, umfasst mindestens fünfundzwanzig Tiere. Besonders eindrücklich sind ihre Atemgeräusche. Verspielt springen einzelne Wale immer wieder aus dem Wasser, als ob sie uns ein besonderes Spektakel bieten wollen. Ich finde keine Worte um diese Eindrücke würdig zu beschreiben. Es ist die pure Ehrfurcht, die mich erstarren und staunen lässt. Die Faszination wird auch nach einer Stunde nicht weniger, wir sind alle wie in einen Bann gezogen. Doch leider findet das Spektakel einige Minuten später ein Ende, da wir zurück in den Hafen müssen. Alle sitzen glücklich auf ihren Plätzen und schauen über die endlose See in der Hoffnung nochmals einen Blick von einem schwimmenden Riesen zu erhaschen.

Den Sonnenuntergang erlebe ich auf der Veranda der Island Hoppin’ Brewery. Ein Tablet mit sieben kleinen Bieren steht vor mir. Beim Verköstigen der Eigengebräue schaue ich die Bilder des Tages durch. Es fällt mir schwer die schlechten Bilder zu löschen. Dies liegt wahrscheinlich daran wie schön und frisch die Eindrücke noch sind. Die Leute um mich werden neugierig und wollen so einiges übers Whale-watching wissen. Zwischen meinen Antworten nippe ich genüsslich an meinen Bieren und versuche die verschiedenen Geschmäcker zu erkennen. Es muss im Trend liegen ein Bier mit Himbeernote zu brauen. Island Hoppin’ ist schon die dritte Brauerei, welche ein solches anbietet. Ich mag die Beeren lieber frisch ab Strauch als in meinem liebsten Hopfengetränk. Beizeiten gehe ich an meinen angestammten Zeltplatz, da die Fähre am nächsten Morgen nicht auf mich warten wird.

Es ist noch dunkel als ich mich aufrapple und meine Hufe schwinge. Auf halbem Weg zum Fährterminal realisiere ich, dass es ganz schön knapp wird. Da ich es heute bis nach Vancouver schaffen will, muss ich unbedingt die erste Fähre erwischen. Kräftig trete ich in die Pedale und sause über die Insel. Der fiese Anstieg vor der Anlegestelle fühlt sich einiges länger an, da ich den Zeitdruck verspür. Ich fahr über den Steg auf das Schiff und keine Minute später senkt sich die Barriere. Puhhh, geschafft. Ich schnappe nach Luft und schleppe mich in die Passagierkabine um mich zu erholen. Auf den Wasserstrassen komme ich mit Umsteigen in Friday Harbour und auf Vancouver Island nach Tsawassen, die Fährstation im Süden von Vancouver. Auf der letzten Fähre lerne ich Ryder und seine Freundin kennen. Sie wollen mit den Rädern bis nach San Diego und dabei unterwegs zum Thema Wasserzyklus etwas Aufklärung betreiben. Ihr Projekt kann man auf www.thewatercycle.net verfolgen. Der Schwatz mit den Beiden lässt während der Überfahrt keine Langeweile aufkommen. Dann folgt eine teilweise haarsträubende Fahrt in die Stadt.

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